Matthias Schamp – U-Bahn-Fahren als urbanes Origami
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U-Bahn-Fahren als urbanes Origami
Eine gedankliche Faltanweisung
Erstveröffentlichung in:

Glück gehabt
Kunst im Untergrund
Neue Gesellschaft für Bildende Kunst
NGBK, Berlin 2009
ISBN 978-3-938515-26-6

"Die Stadt faltet sich ein. Die Stadt entfaltet sich wie eine Blume. U-Bahn-Fahren krümmt den Raum. An die Stelle der Kontinuität der Raumerfahrung tritt das Spiel der Brüche."
"Eine Freundin schildert mir ein Erlebnis aus dem winterlichen Sankt Petersburg, damals noch Leningrad. 'Wir stiegen mitten in der Stadt in die U-Bahn und fuhren auf gut Glück irgendwohin. Als wir ausstiegen, befanden wir uns in einer cleanen Trabanten-Vorstadt am Meer­. Es war still. Das Meer war bis zum Horizont zugefroren – mit vereinzelten Eisanglern an ihren Löchern. Total unwirklich!' Das Gefühl von Unwirklichkeit erwächst aus der Erfahrung einer Differenz. Diese Differenz fällt vor allem deshalb so gravierend aus, weil der Aufeinanderprall von Innenstadttrubel und der Situation am Meer ohne sichtbare Übergänge erfolgte. Fazit: Die U-Bahn sollte viel öfter als Mittel zur Erzeugung von Unwirklichkeit eingesetzt werden."
"Dabei ist den genannten Fortbewegungsformen eines gemeinsam: Wer sich – egal mit welchem Verkehrsmittel – oberirdisch durch die Stadt bewegt, wird den städtischen Raum immer als etwas wahrnehmen, das sich kontinuierlich zu der Seite hin entwickelt, zu der die Bewegung erfolgt. Anders beim U-Bahn-Fahren. Mit dem Eintritt in die Unterwelt verschwindet die Stadt als visuelle Gegebenheit, um erst nach der Ankunft am Zielort mit dem Auftauchen an der Oberfläche wieder in Erscheinung zu treten. Die Form, die die Stadt als Vorstellungsinhalt im Bewusstsein annimmt, bekommt hierdurch eine völlig andere Qualität. An Stelle eines zusammenhängenden Einheitsraumes gibt es voneinander getrennte Partitionen."
"Jede Nutzung des öffentlichen Raums, die über rein automatisches Funktionieren im Sinne von bloßen Reiz-Reaktionsmustern hinausgeht, wird von Vorstellungsinhalten begleitet. Die Stadt bildet sich im Bewusstsein ab. Dabei ist die Art der Bewegung – als eine der konkretesten Aneignungsformen des Öffentlichen – ein strukturierendes Element dieses Bildes. Der Autofahrer, der Spaziergänger, der Radfahrer eignen sich den Raum auf unterschiedliche Weisen an. Insofern ist auch der Vorstellungsinhalt, den dieser Raum in ihrem Bewusstsein einnimmt, jeweils ein anderer."
KOMPLETTER TEXT ALS PDF (fünf Seiten)
Erneut veröffentlicht in:

Künstler unterwegs
Wege und Grenzen des Reisens
Hg. Harald Pechlaner, Elisa Innerhofer
Nomos-Verlag, Baden-Baden, 2018
ISBN 978-3-8487-4788-7 (Print)
ISBN 978-3-8452-9044-7 (ePDF)